Ist Long Covid auch ein Noceboeffekt?

Müdigkeit, Atembeschwerden, Konzentrationsprobleme. Geschätzt leiden zwischen 10 und 15 % der PatientInnen nach einer Covid-19 Infektion noch Wochen bis Monate unter dem sogenannten Long Covid-Syndrom. Eine Studie französischer WissenschaftlerInnen belegte im November 2021 allerdings, dass nahezu ebenso viele Betroffene unter denselben Symptomen litten, auch wenn sie nur glaubten, mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen zu sein, obwohl dem nicht so war. Wie lassen sich die Beschwerden der Betroffenen also erklären?

Nicht nur positive, auch negative Erwartungen können das Auftreten und den Verlauf von Krankheitssymptomen beeinflussen. Man spricht dann von einem Noceboeffekt (lateinisch: „Ich werde schaden“). Viele Forschungsergebnisse weisen seit langem darauf hin, dass während des Noceboeffektes im zentralen Nervensystem Prozesse angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen und Beschwerden wie Schmerzen führen können. „Es handelt es sich um ein Zusammenspiel von direkten biochemischen Effekten und psychischen Effekten», bestätigt Winfried Rief, Professor für Psychologie und Psychotherapie der Universität Marburg und Vorstandsmitglied des DFG Sonderforschungsbereichs 289 „Treatment Expectation“.
Dass dies auch bei Long Covid-Symptomen eine Rolle spielen könnte, belegt eine neue Studie aus Frankreich, die Ende 2021 im renommierten Journal der American Medical Association JAMA publiziert wurde. Das Forschungsteam um den Pariser Psychiater Cedric Lemogne testete knapp 27.000 Personen zwischen Mai und September 2020 auf Anti-SARS-CoV-2-Antikörper. Bei etwa 1.000 Teilnehmenden konnten Antikörper (AK) als Hinweis auf eine vorangegangene Infektion nachgewiesen werden, wobei 453 auch sicher waren, mit dem Coronavirus infiziert gewesen zu sein, 638 dagegen glaubten dies nicht. Spannend waren nun insbesondere diejenigen der 25.000 Studienteilnehmenden, deren AK-Test negativ ausfiel, die also kein COVID hatten, aber überzeugt waren, eine Infektion durchlebt zu haben. Anschließend erfasste das Forschungsteam bei allen Teilnehmenden Long Covid-Symptome, die mindestens über einen Zeitraum von acht Wochen spürbar waren. Betroffene berichteten über andauernde Müdigkeit, Schwindel, Atembeschwerden, Konzentrationsdefizite oder Muskel- und Gelenkschmerzen. Allerdings signifikant häufiger diejenigen, die glaubten sie hätten die Infektion überstanden, und zwar unabhängig davon, ob sie wirklich infiziert waren oder nicht. Die Ergebnisse: Der Glaube, die Infektion durchlebt zu haben, führte in beiden Gruppen – unabhängig, ob eine Infektion tatsächlich über den AK-Test nachgewiesen werden konnte – zu einem vierfach häufigeren Auftreten des Symptoms Müdigkeit (zwischen 10,6 und 13,8 %). Dagegen spürten nur 3,5 % Müdigkeit, wenn sie tatsächlich infiziert gewesen, allerdings persönlich überzeugt waren, sie hätten gar kein Corona gehabt. Ganz ähnlich sehen die Verteilungen bei den Symptomen Atembeschwerden und Konzentrationsprobleme aus.
Das Fazit: Wer glaubt, er hatte Corona, entwickelt häufiger typische Long Covid-Symptome, unabhängig von der tatsächlichen Infektion.
„Die negative Erwartung beeinflusst offensichtlich die Entwicklung von Beschwerden wie Müdigkeit, Kopfschmerz und andere“, erklärt Prof. Winfried Rief, „erfahren Patienten zum Beispiel über die Medien oder Freunde, dass schwerwiegende Nebenwirkungen nach einer Covid-Infektion auftreten können, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich Beschwerden zu entwickeln“.

In den Projekten des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs (SFB 289) „Treatment Expectation“ werden die Mechanismen intensiv untersucht, wie sich Erwartung auf das psychische Befinden und körperliche Symptome auswirkt, um gezielte und personalisierte Strategien zur Prävention zu entwickeln. „Die aktuelle Studie demonstriert, dass die Erwartung auch bei dem Long Covid-Syndrom eine wichtige Rolle spielt. “, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften an der Universitätsmedizin Essen und Sprecherin des SFB 289.

Die vollständige Publikation können Sie auf der Webseite von JAMA lesen oder hier als PDF